Wir trinken Milch von Wegwerfkühen
Von Stephan Börnecke

Prall gefüllt Foto: dpa/Sebastian Kahnert
Kaum jemand denkt beim Griff nach der Milch im Kühlschrank an die Turbokühe im Stall. Mit Kraftfutter, kurzen Befruchtungszyklen und Medikamenten geben sie immer mehr Milch. Nach fünf Jahren - da wird eine Kuh gerade erwachsen - ist sie ausgepowert und muss in den Schlachthof.
Sie ist der Stolz eines jeden Milchbauern: die 100.000-Liter-Kuh. Der Lokalzeitung, auch der landwirtschaftlichen Fachpresse ist das eine kleine Geschichte wert. Denn die gigantische Menge ist eine Ausnahmeleistung. Sie wird nur erreicht, wenn alles drum herum stimmt: genetische Ressource, Stall- und Weidemanagement mit Auslauf mindestens im Sommer, optimiertes Futter. Würde die Kuh so viel Milch produzieren wie noch vor 150 Jahren, also vielleicht 1 000 Liter im Jahr, müsste sie 100 Jahre alt werden, um diese Menge zu erreichen.
Zucht, Fütterung und Haltung haben es ermöglicht, dass deutsche Kühe heute im Schnitt knapp 8 000 Liter Milch pro Jahr geben. Inzwischen wurden maximal sogar schon mehr als 20.000 Liter in einem Jahr gemolken, und manche Experten gehen davon aus, dass sogar 25 000 Liter physiologisch möglich wären. Von einem Tier. Doch auch bei 8 000 Litern wäre eine Kuh, um die 100.000 Liter zu erklimmen, bereits 15 Jahre alt.
25 000 Liter im Durchschnittsleben
Tatsächlich aber sprechen die Fakten auf den verbliebenen 75 000 deutschen Milchhöfen eine ganz andere Sprache: Nicht 100.000 Liter sind das Maß der Dinge, sondern die deutsche Durchschnittskuh. Sie kommt in ihrem Leben auf 25.000 Liter. Und nicht 15 Jahre wird sie alt, sondern im Durchschnitt etwa fünf Jahre. Sie wäre dann eigentlich gerade erwachsen, aber muss zum Schlachter, weil sie als ausgepowert gilt und zum Beispiel die Tierarztkosten zu hoch geworden sind.
Spätestens nach dem dritten Kalb sind viele Kühe ökonomisch gesehen am Ende mit ihren Kräften. Zwar gibt es auch Hochleistungs-Kühe, die acht und mehr Laktationen (das ist die Periode, in denen die Kuh nach der Geburt des Kalbs Milch gibt) aufweisen und dann um die zehn Jahre alt sind. Doch das ist heute die Ausnahme.
Der wohl wesentliche Grund für den vorzeitigen Abgang ist in einer einseitigen Züchtung auf hohe Milchleistung zu suchen. In einem wissenschaftlichen Report der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA über die Gesundheit und das Tierwohl von Milchkühen machten die Experten schon im Oktober 2009 deutlich, dass die Zeche für Zucht auf hohe Leistung die Kuh zu zahlen hat: Lahmheiten, Klauenerkrankungen, bakterielle Euterentzündungen wie Mastitis, Stoffwechselerkrankungen und schließlich frühzeitige Unfruchtbarkeit, das sind die Folgen.
Allein aus dem letzten Grund scheiden vorzeitig mehr als ein Fünftel aller Kühe aus der Herde aus – und kommen zum Schlachter. Das verwundert, denn die eigentliche Höchstleistung, so Bio-Milchbauer und Grünen-Europaabgeordneter Martin Häusling, erreichen Kühe erst im höheren Alter – aber nicht schon beim zweiten Kalb.
Die EFSA-Experten hatten deshalb in ihrem Report dazu geraten, bei der genetischen Auswahl von Milchkühen deren Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten wie Lahmen und Mastitis im Auge zu behalten und damit Aspekte wie Fortpflanzungsfähigkeit, Gesundheit und Lebensdauer in den Fokus zu stellen. Statt allein die Milchmenge zum Maßstab zu nehmen.
Mit Hormonen nachgeholfen
Zwar haben die Züchter, glaubt man der Zeitschrift Bauernstimme, dem Organ der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft, diesen Ruf längst erhört. Doch die Milchbauern reagierten zögerlich: „Gewohnte Erfolgsmerkmale haben starken Einfluss“ auf die Wahl des geeigneten Samens, viele würden deshalb weiter auf die „starken Milchvererber zurückgreifen“, schreibt das Blatt.
Zucht ist das eine Kriterium für hohe Milchleistung, das Kraftfutter wie Soja, Palmöl- oder Kokoskuchen aus Übersee sowie Getreide aus heimischem Anbau das andere. So sieht Josef Jacobi, Milchbauer aus Ost-Westfalen, in der Fütterung, aber auch in der falschen Haltung mit Spaltenböden und fehlendem Weidegang ein weiteres Indiz für viele Probleme der modernen Kuh. Denn das Futter sei einseitig und allein auf Leistung abgestellt, und zwar durch hohe Eiweißfuttergaben.
Es kommt hinzu, was die Autorin Tanja Busse in ihrem Buch „Die Wegwerfkuh“ mit einem Rückblick auf die wilden Vorfahren der heutigen Rinder, also auf Ur oder Auerochse beschreibt. Die Ur-Kuh mobilisierte alle Energiereserven für das Kalb, und zwar auch dann, wenn es gerade wenig zu fressen gab. Sie weist dann eine negative Energiebilanz auf, zehrt von den eigenen Reserven. Das ist auch bei der heutigen Kuh so.
Das Rind zur Sau machen
Doch weil das Tier irgendwann nach 300 Tagen die Milchproduktion einstellen würde (das Kalb frisst ja dann Gras), muss sie angesichts einer Tragzeit von neun Monaten bereits sechs bis acht Wochen nach der Geburt erneut besamt werden. Das geschieht in einer Zeit, in der ihr Organismus unter Hochdruck arbeitet und sie möglicherweise noch gar nicht wieder richtig fruchtbar ist. Landwirte und Tierärzte helfen dann nach – mit Hormonen. Helfen auch die nichts, dann kommt sie auf den Schlachthof. Dabei verweisen die stolzen Besitzer der 100.000-Liter-Kühe darauf, dass es mitunter auch lohnt, dem Tier etwas mehr Erholung zu gestatten. Geduld sei gefragt, „die Kuh kommt wieder“.
Es gibt inzwischen aber auch Milchbauern, die die Frage nach der Höchstleistung klar beantworten: Sie füttern kaum oder gar kein Kraftfutter mehr und akzeptieren, dass das Milchvieh rund 3 000 Liter weniger im Jahr gibt. Etwas mehr als 50 Landwirte wurden von Wissenschaftlern vom Büro für Agrarsoziologie und Landbau BAL und vom Kasseler Institut für ländliche Entwicklung befragt und deren Arbeit analysiert. Es kam heraus, was die Wissenschaftler mit „Sinnstiftung“ umschreiben. Denn die Argumentation dieser Bauern sei eindeutig: Sie sehen nicht ein, weshalb sie den Gras- und Heufresser Kuh mit Getreide vollstopfen sollten – das Rind also zur Sau machen. Diese Bauern wollten dem Tier weniger zumuten und zugleich auch sich selbst ein Stück Arbeit ersparen. Denn weniger oder gar kein Kraftfutter heißt weniger Aufwand bei der Fütterung, hilft Kosten fürs Kraftfutter senken.
Geht diese Rechnung auf? Ja, sagen die Wissenschaftler, geringere Betriebsausgaben dank niedrigerer Futterkosten und weniger Tierarztbesuchen, gepaart mit einem höheren Lebensalter glichen den geringeren Milchertrag mehr als aus.
http://www.berliner-zeitung.de/wirtscha ... 31024.html