Kommunikation mit den BesuchernIch fragte den Tierpfleger, ob Knut die Besucher auf den Wecker gingen. Nein, das Gegenteil wäre der Fall. Wenn es mal wenige Besucher gab, wäre Knut richtig ungehalten gegenüber den Pflegern. Er war dann muffelig und schlecht gelaunt. Ausgeglichen war er, wenn er viele Besucher hatte, am besten neben dem Kamerateam vom RBB noch Radio Moskau, Tokio und Peking TV. (Seine Freunde wussten das und ließen ihn auch am gefühlsbeladenen Heiligabend nicht allein.) Zufrieden war Knut natürlich auch, wenn er toll und ausdauernd gespielt hatte. Nicht zu vergessen der Höhepunkt jedes Tages, die Mahlzeiten. Es sei denn, Giovanna hatte ihm interessante Stücke entwendet. Dann dürfte sie umso besserer Laune gewesen sein. Beute machen bringt Spaß!
Wir erlebten einen grauen regnerischen Novembertag im Jahr 2008. Kaum jemand verirrte sich in den Zoo, nur die Touristen, die von weither kamen und sich das Wetter nicht aussuchen konnten, waren vertreten. Vier Frauen aus Russland traten an die Brüstung, während Knut missgestimmt auf seinem Aussichtsplatz lag. Sie sprachen aufgeregt miteinander, suchten mit den Augen nach dem weltberühmten Knut und nahmen schon an, er sei bei diesem trüben Wetter vielleicht im Innengehege. Da erhob sich Knut, die Damen fixierend, eilte trab, trab die Stufen hinab, baute sich vor ihnen auf, schaute ihnen tief in die Augen, erhob sich auf seine Hinterbeine und brummte laut, sichtlich in freundlicher Stimmung. Die Besucherinnen waren entzückt, stießen begeisterte Laute hervor, riefen „Knutjenka!“ und klatschten schließlich. Der Tag dürfte für ihn gerettet gewesen sein. Hatten doch die Russinnen ihm die gebührende Ehre erwiesen.




Die Besucher hatte Knut immer im Auge. Und selbstverständlich kannte er die häufig wiederkehrenden Besucher. Er war erfreut, wenn sie vor der Scheibe seines letzten Geheges auftauchten. Dann begrüßte er sie, es sah so aus, als ließe er sich durch das Glas hindurch streicheln und als schmuste er Kontakt suchend an der Scheibe entlang. Einer der getreuen Fotografen, die Knut von der ersten Zeit her kannte, sagte: Das musste ja so kommen! Jetzt wird er immer an der Scheibe kleben. Und Knut schaute, diesen Eindruck musste man gewinnen, seinen Freunden oft tief in die Augen. Er vergewisserte sich immer wieder mit kurzen Blicken ihrer Gegenwart. Der wiederholte Blickkontakt schien beruhigend zu wirken: Meine Leute sind noch da!
Giovanna, seine zeitweilige Gefährtin, schien im Gegensatz zu Knut keine Notiz von den Besuchern zu nehmen. Sie schaute niemandem tief in die Augen, wusste die Lebensäußerungen der Menschen weniger oder gar nicht zu deuten. Knut hatte mit der Flasche eingesogen, was seine Familie ihm sagen wollte, wenn sie lachte, weinte, beruhigte, ungeduldig oder ärgerlich wurde, wenn Herr Dörflein „komm, komm, komm“ rief. Er fühlte, was das Lachen bedeutete und wiederholte, wenn er dazu aufgelegt war, Handlungen, die die Besucher belustigten. Er wusste, was die Ahs! und Ohs! ausdrücken sollten, wenn er sich zu voller Größe aufrichtete, wobei in der Regel auch noch applaudiert wurde. Giovanna dürften diese Zeichen rätselhaft geblieben sein, Knut aber fühlte deren Bedeutung. Nur einmal sah ich sie in Aufregung und versucht, den Graben zu überspringen, als nämlich die Tierpflegerin zwischen den Besuchern stand. Giovanna war schier begeistert. Als wir vermuteten, Giovanna würde sie wohl sehr lieben, meinte die Tierpflegerin prosaisch: Wohl eher den Eimer mit der Mahlzeit!

Ein Zoodirektor von außerhalb meinte, Knuts Späßchen seien Selbstdressur, er merke eben, was Anklang finde, und das mache er dann. Das klang mir zunächst abwertend und war wohl auch so gemeint. Aber nach einigem Überlegen denke ich, dass viele Handlungsweisen und Lernvorgänge von Kindern oder Erwachsenen ebenfalls einer solchen „Selbstdressur“ entspringen. Sie merken, welche Verhaltens- und Handlungsweisen ihnen Vorteile bringen und stellen sich darauf ein. So ist es bei den Menschen, so ist es bei den Eisbären und bei den übrigen intelligenten Wesen. Beim Menschen würde man von Selbstbeherrschung und Selbststeuerung sprechen. Je intelligenter ein Lebewesen ist, umso besser lernt es, die Wirkungen seiner Verhaltensweisen einzuschätzen und nimmt sie in sein Verhaltensrepertoire auf. Knut war auf einem vielversprechenden Weg. Das mag man Selbstdressur nennen, es ist im Prinzip jedenfalls etwas Gescheites und Positives, hilft es doch dabei, im Leben besser zurechtzukommen oder etwas Besonderes zu leisten.
Die oberflächlichste Bemerkung zu diesem Thema habe ich übrigens ausgerechnet von einem südwestdeutschen Zoodirektor in einer Zoo-Fernsehsendung gehört: Eisbären sähen in den Menschen vor dem Gehege nur „wandelndes Fleisch“!
Knut hatte Zuschauer und Verehrer jeder Gemütslage, Altersgruppe, regionalen und nationalen Herkunft. Alle Charaktere und Temperamente waren vertreten. Man machte unvermeidlicherweise so seine Beobachtungen und konnte sich manchmal wundern.
In der Weihnachtszeit 2008 stand eine freundliche Frau vor Knuts Gehege mit einer Mundharmonika in der Hand. Sie betrachtete Knut aufmerksam, während er seine stereotype Wanderung machte. Hin und her. Her und hin. Auf einer Strecke von 6 Metern. Thomas Dörflein war seit einem viertel Jahr tot. Es waren wenige andere Knut-Freunde da. Die Frau fing an zu spielen, „Leise rieselt der Schnee“. Knut merkte auf, hob den Kopf und blickte in ihre Richtung. Da intervenierte eine andere Knut-Freundin. Sie sagte, Musizieren sei auf dem Zoogelände verboten. Das könne sie in der Zoo-Ordnung nachlesen. Die Musik würde Knut schaden. Ich gab zu bedenken, dass Knut ja schon im Säuglingsalter Musik gehört habe. Jede Zeitung hatte von Thomas Dörfleins Gitarrenspiel für Knut berichtet. Songs von Elvis Presley. Von ernsthaften Schädigungen von Knut sei nichts bekannt geworden. Ja, entgegnete die vehemente Verteidigerin seiner Interessen, das habe Knut nichts geschadet. Aber das sei ja etwas ganz anderes gewesen, nämlich erstens von TD gespielt und zweitens auf einer Gitarre. Ich war sprachlos, und die Besucherin, die Knut eine Freude hatte machen wollen, ließ die Mundharmonika in der Jackentasche verschwinden. Ich wandte noch ein, dass dieser Passus in der Zoo-Ordnung wohl eher als Schutz vor Ghetto-Blastern gedacht sei, die möglicherweise von jugendlichen Besuchern laut aufgedreht herumgetragen werden könnten. Ohne Erfolg, die gestrenge Knut-Freundin beharrte auf dem Verbot jeglicher Musik für Knut. Als sich die vermeintliche Knut-Beschützerin in Richtung Affenhaus entfernte, ermutigte ich die Mundharmonika-Spielerin, ihr Instrument wieder hervorzuholen. Knut hörte aufmerksam zu. Leider spielte sie nicht mehr lange, sie fühlte sich unbehaglich. Schade. Knut hatte das Spiel ganz offensichtlich gefallen.
Verschiedentlich konnte ich bei einigen Knut-Freunden eine leicht gereizte Unduldsamkeit beobachten. Zu ihrem Missvergnügen befand sich gegenüber von Knuts Gehege der Spielplatz. Da ging es besonders in den Schulferien naturgemäß laut und bewegt zu. Knut war mit dieser Lärmkulisse aufgewachsen, und ich konnte nie ein Erschrecken oder Aufblicken bei ihm bemerken. Wohl aber konnte ich beobachten, wie vielen Knut-Freunden bei diesen Geräuschen die Gesichtszüge leicht entgleisten. Im Blog wurde oft und ausgiebig über die schrillen Kinderstimmen geklagt, die Knuts Leben angeblich zur Vorhölle machten, mindestens. Wir konnten Knut nie dazu befragen. Auf mich machte er keinen irritierten Eindruck. Ja, es stimmt, in Tundra und Arktis war es meistens eher leise. Man müsste allerdings mal genauer hinhören, vielleicht würden uns dann Sturm, Brandung, krachende Eisschollen und kalbende Eisberge eines Besseren belehren. Oder Seevögel, randalierende Robben und Walrösser. Aber Knut war ein Berliner Zoobär und mit den Geräuschen groß geworden, die nun einmal entstehen, wenn Kinder vor dem Gehege ihre Begeisterung über ihn äußern oder nebenan auf dem Zoospielplatz ausgelassen spielen. Dagegen sah ich häufig die genervten Reaktionen von Knut-Freunden, die schmerzhaft ihr Gesicht verzogen. Ihre eigene Aversion gegen Kinderlärm haben sie auf Knut übertragen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass er weniger an diesen hörbaren Zeichen kindlicher Lebensfreude leiden würde als sie selbst. Ich aber bin überzeugt davon, dass Knut sich an das mehr oder weniger laute kindliche Stimmengewirr gewöhnt hatte. Zwar konnten wir Knut nicht direkt befragen. In seiner Gestik, seinem Verhalten und auch in seinem Gesichtsausdruck, die wir ein wenig zu deuten gelernt hatten, waren aber für uns keine genervten Reaktionen zu entdecken.
Charismatische Tiere haben es an sich, dass sie von den unterschiedlichsten Menschen aufgesucht werden. Die ganze Bandbreite der Bevölkerung fand sich bei Knut ein, alle fühlten sich von ihm angezogen oder waren zumindest neugierig. Dazu gehörten die Ausgeglichenen, Zufriedenen und Glücklichen. Dazu gehörten die alten und einsamen, die verbitterten und die sanften, die enthusiastischen und inspirierten, die freundlichen und die ungehaltenen Menschen. Und die vom Schicksal Gezeichneten. Und natürlich gehören zur Bevölkerung auch die Nicht-Angepassten, die Gestörten und auch Menschen mit erheblichen psychischen Abweichungen. Im Dezember 2008 gesellte sich zu Knut der junge Mann, der ihm in seiner Einsamkeit beistehen wollte. Knut blickte erstaunt, aber bevor er sich auf ein Spiel mit dem jungen Mann einlassen konnte, meldete sich seine menschliche Familie und lenkte ihn ab. Knut nahm sofort Kurs aufs Innengehege. Wie ich glaube, war es nicht so sehr die Rinderkeule, die ihn den jungen Mann vernachlässigenswert erscheinen ließ, sondern eher die Freude auf ein Spielchen mit seinen bewährten Bezugspersonen. Das war für ihn allen anderen Unterhaltungen vorzuziehen, nehme ich an.
Gefährlich wurde es dagegen für die Frau, die Ostern 2009 ins Gewässer der erwachsenen Eisbären sprang. Sie wurde erheblich verletzt, kam aber mit dem Leben davon, weil die Tierpfleger beherzt und geistesgegenwärtig reagierten. Die Eisbären wurden mit dem Knut vorenthaltenen Spielzeug aus der Asservatenkammer bombardiert, was sie sofort als spannende Unterhaltung und Abwechslung begriffen. Sie ließen von der Frau ab, den Pflegern gelang es, Rettungsring und Tau ins Wasser zu lassen, sie konnte sie ergreifen und hochgehievt werden. Die Frau war gerettet.
Wäre Knut nicht so berühmt gewesen, dann wäre der junge Mann auch nicht auf die Idee gekommen, ihm Gesellschaft leisten zu wollen. Und die Frau hätte auf dieses Abenteuer verzichtet. Vielleicht hätten sie ihr Leben auf andere Art aufs Spiel gesetzt. Nun war eben Knut der Auslöser, über den immer noch in den Zeitungen berichtet wurde. Weniger in den „seriösen“, aber häufig in den Boulevard-Zeitungen.
Vor Knuts Gehege fanden sich auch Leute ein, die auf andere Weise nicht der Norm entsprachen. Ihre lauten Zwiegespräche und Monologe nahmen einige der anderen Besucher nicht immer mit der notwendigen Gelassenheit auf. Sie notierten nur das ungewöhnliche Betragen, konnten aber keine Erklärung dafür finden und reagierten gereizt, statt es mit geduldigem Gleichmut hinzunehmen.
Eines Tages, es war ein Wochenendtag und sehr voll vor Knuts Gehege, rief ihm eine junge Frau mit heller und durchdringender Stimme ihre Botschaften hinüber. Alle merkten auf und hörten es. Allen schien klar, dass diese junge Frau psychisch aus der Norm fiel. Man reagierte zunächst gelassen auf die Situation. Was sollte man auch sonst tun? Aber als die junge Frau anfing, Knut Äpfel hinüberzuwerfen, verließ einige Knut-Freunde die Contenance. Sie taten so, als würde Knut ein Leid angetan. Vielleicht dachten sie an die böse Stiefmutter, die Schneewittchen mit einem vergifteten Apfel zu töten versuchte. Jedenfalls wurden der Kurator benachrichtigt und Pfleger herbeigerufen, um diese Person am Apfelwurf zu hindern.
Schließlich ging sie von Kurator und Tierpfleger eingerahmt Richtung Ausgang. Es wirkte so, als würde sie abgeführt werden. So ähnlich war es ja auch. Verzweifelt rief die junge Frau, sie müsse noch ihre Kinder mitnehmen. Sie war ohne Kinder gekommen. Ich nehme an, dass diese nur in ihrer Vorstellung existierten. Einige Knut-Freunde waren mit solchen Situationen überfordert. Sie brachten nicht die Geduld auf, die Frau zu beruhigen.