Ihr Tod bringt Unglück
Wie ein Mythos die weißen Hirsche aus Hessen schützt
27.05.2017 Von GÖRAN GEHLEN (DPA)
Bis zu 40 weiße Hirsche leben in Hessens nördlichstem Wald. Um die seltenen Tiere ranken sich Mythen. Wissenschaftler versuchen, dem Phänomen auf den Grund zu gehen.

Foto: Swen Pförtner (dpa)
Kassel
Wer einen weißen Hirsch tötet, stirbt innerhalb eines Jahres: Dieser Mythos unter Jägern rankt sich um die außergewöhnlichen Tiere, die es im nordhessischen Reinhardswald in vergleichsweise großer Zahl gibt. Der Aberglaube wirkt offenbar nach: Laut dem zuständigen Landkreis Kassel ist seit Jahren kein weißer Hirsch mehr geschossen worden. Stattdessen seien sich Jäger und Naturschützer einig, die weißen Tiere wegen ihrer Besonderheit zu erhalten. Der jüngste Anstoß der Forstverwaltung, ein paar Exemplare zum Abschuss freizugeben, stieß auf Ablehnung.
Keine Pigmentstörung
Weiße Hirsche sind laut dem Deutschen Jagdverband selten: Vor einigen Jahren sorgte die Flucht von „Hansi dem Albinohirsch“ aus einem Gehege in Rheinland-Pfalz für Aufsehen. Die Hirsche in Hessens Nordspitze sind keine Albinos: Ihre Farbe rührt nicht von einer Pigmentstörung her, sondern sie sind offenbar eine genetische Laune der Natur.
Licht ins Helle soll eine von der hessischen Landesregierung geförderte Studie der Justus-Liebig-Universität in Gießen bringen. Beim Vergleich weißer und brauner Tiere im Reinhardswald solle mit Analyseverfahren aufgeklärt werden, „ob es sich beim weißen und braunen Rotwild um getrennte Populationen oder um Vertreter einer einzigen Population handelt“, erklären die Wissenschaftler.
Unterstützt wird das Projekt vom Tierpark Sababurg im Reinhardswald: „Wir liefern Material in Form von Geweihstangen“, sagt die dortige Zoologin Sandy Rödde. Bohrproben aus den Geweihen erlaubten Rückschlüsse auf das Erbgut. Der Tierpark besitzt ebenfalls weiße Hirsche. Ob die identisch mit den Artgenossen in den umliegenden Wäldern sind, ist aber unklar. Es gebe zwar das Gerücht, dass es sich um entlaufene Hirsche aus dem Tierpark handele: „Wir vermissen aber keine Tiere“, erklärt Rödde.
Laut den Gießener Forschern ist die Verbreitung des weißen Rotwilds im Reinhardswald vermutlich auf den hessischen Landgrafen Wilhelm IV. zurückzuführen. Der habe Ende des 16. Jahrhunderts die Hirsche dort in einem Tierpark gehalten, dann wurden einige Exemplare „aufgrund der Wirren des Dreißigjährigen Krieges freigesetzt“. Zur Größe des heutigen Bestands gibt es unterschiedliche Angaben, Hessen Forst geht von bis zu 40 Stück aus.
Zu viele Tiere schaden
Für Jäger seien die weißen Tiere etwas Besonderes, sagt Rödde, die selbst jagt: „99 Prozent der Jäger genießen es, wenn ein solcher weißer Hirsch vorbeiläuft.“ Es sei ein toller Anblick, wenn auf eine Lichtung mit braunem Wild plötzlich ein weißer Hirsch trete. Und bei älteren Jägern sei der Mythos durchaus noch in den Köpfen, dass die Tötung weißer Tiere Unglück bringt.
Der Abschuss von Wild diene dem Schutz des Waldes, erklärt Harald Kühlborn, Sprecher des Landkreises Kassel. Zu viele Tiere schaden dem Wald. Die Jagdbehörde des Kreises legt deshalb die Zahl der erlaubten Abschüsse fest. Bei den weißen Hirschen seien sich Behörden, Naturschützer, Landwirte und Jäger einig gewesen: Sie werden nicht geschossen, weil sie besonders sind.
Der Landesbetrieb Hessen Forst sieht dagegen keinen triftigen Grund, weißes Rotwild gar nicht zu bejagen. Schließlich seien weiße Hirsche abgesehen von der Farbe wie braune. Zumindest drei Stück wollte Hessen Forst jagen lassen – und fand dafür keine Zustimmung. Wenn also ein weißer Hirsch plötzlich aus dem Gebüsch tritt, bedeutet das auch künftig für die Jäger: genießen, nicht schießen.
http://www.fnp.de/rhein-main/Wie-ein-My ... 01,2643808